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Was geht die Politik die Weltregierung an?

Zu Dag Hammarskjölds kosmopolitischer Staatskunst.

Von Hans Göttel

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Es war kein Geringerer als Albert Einstein (1879-1955), der den zweiten UN-Generalsekretär und schwedischen Diplomaten Dag Hammarskjöld (1905-1961) in seiner Intention bestärkte, die Vereinten Nationen zur Weltregierung zu formen, statt sich auf gutmeinende Pseudo-Aktivitäten einzulassen. Hier haben sich zwei getroffen, die einer Verstaatlichung der Welt durch die vielen Staaten nicht weiterzusehen, sondern eine Weltregierung als Ausdruck einer internationalen Gemeinschaft instaurieren wollten.

Doch bis heute wollen weder die Eliten der Nationalstaaten, noch globale Aktivistinnen dahin denken. Sie bevorzugen das von großen Polizeiaufgeboten geschützte Schaulaufen zu den Weltgipfeln der Staatsmänner, die merkwürdiger Weise weit abseits der Vereinten Nationen stattfinden, mit dem jeweiligen UNO-Generalsekretär als gelegentlichen Zaungast.

Für die globale Friedens- und Entwicklungsarbeit war aus Hammarskjölds Sicht nicht die Politik, sondern die Diplomatie zuständig, und er machte mit seiner Chinareise im Januar 1955 gleich vor, wie das funktionieren könnte. Die Weltöffentlichkeit staunte nicht schlecht, als der Generalsekretär der Vereinten Nationen ohne Mandat in ein Land aufbrach, das gar nicht Mitglied der UNO, vielmehr völlig isoliert war, um dort inhaftierte US-Piloten, die im Zuge des Koreakrieges abgefangen und der Spionage verdächtigt wurden, zu befreien. Es verbreiteten sich Legenden, wonach Hammarskjöld mit dem Premierminister und Führer der Kommunistischen Partei, Chou En-Lai (1898-1976), gar nicht über die gefangenen Piloten, sondern nächtelang über östliche und westliche Philosophien geplaudert haben soll, was allerdings so nicht stimmt. Die Verhandlungen waren hart und Hammarskjöld war in der Sache mitsamt seinen hervorragenden Beratern auf verlorenem Posten. Aber, in der historischen Begegnung des westlichen und östlichen Mandarins war die Sympathie als Dritte im Bunde und so ist es gekommen, dass Hammarskjöld ein paar Monate später einen Großteil der inhaftierten Amerikaner freibekam, und zwar genau an seinem Geburtstag (29. Juli) verbunden mit persönlichen Glückwünschen Chou En Lais. Das verschaffte ihm mit einem Schlag die Reputation, die er so dringend für sein Amt brauchte. Mit seinem Einsatz zur Lösung der Suezkrise 1956 und der Gründung der UN-Friedenstruppen avancierte Hammarskjöld zum allseits anerkannten trouble shooter. „Leave it to Dag“ hieß es nun immer öfters, wenn ein internationaler Krisenherd zu managen war und Hammarskjöld nützte seine Möglichkeiten, um die Vereinten Nationen Schritt für Schritt als eigenständigen Akteur auf die Weltbühne zu stellen.

Seine überragenden diplomatischen Fähigkeiten, die er in Stellung brachte, um die verstaatlichte Welt zu überwinden und internationale Gemeinschaften zu formen, zehrten von einer besonderen Kraftquelle. Erst nach seinem Tod, als sein Tagebuch Zeichen am Weg erschienen war, vernahm die Welt den bislang verborgenen Mystiker. Nun begann man auch seine vielen Reden und seine Korrespondenzen mit Schriftstellern und Künstlern genauer zu lesen. Viele, vor allem seine Landsleute in Schweden, erschraken angesichts einer Überzeugung, wonach das Weltgeschehen ein geistiges Gebilde sei, für das die Politik besser keine Zuständigkeit reklamieren sollte. Hammarskjöld dachte an internationale Gemeinschaften, die nicht aus den Interessen der Staaten, sondern aus einem gemeinsamen Geist der Menschen und Völker geformt werden. Universitäten, Kirchen, Künstler und Intellektuelle sollten die Wirkstoffe für die Verwirklichung von internationalen Gemeinschaften erzeugen, während sich seine internationalen Beamten diplomatisch um die vielen Krisen in allen Erdteilen kümmerten.

Auch Immanuel Kant (1724-1804), Autor des Aufsatzes über die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, nahm, um kosmopolitisch weiter zu kommen, eine Abtrennung von der Politik vor und verwies auf den Unterschied zwischen moralischem und politischem Ideal: letzteres hat kein umfassendes Commonwealth im Sinn, sondern nur eine Föderation von Staaten. Er fordert von allen Individuen, einem ethical commonwealthbeizutreten, das von einem moralischen Gesetz bestimmt wird und betonte die Bedeutung der Bildung von Gemeinschaften tugendhafter Agenten; und weil diese Gemeinschaft durch ein moralisches Gesetz bestimmt wird, muss sie die gesamte Menschheit umfassen.

Ein Modell für die Figur des Weltbürgers fand Hammarskjöld in seinem Landsmann, Carl von Linné (1707-1778), der den Pflanzen und Tieren ihren Namen gab. In ihm sah er das Vorbild für einen Europäer und Weltbürger, einen representative man im Sinne von Ralph Waldo Emerson (1803-1882). Ein solcher Mensch hebt sich aus der Masse der Mitmenschen durch die höchstmögliche Aktualisierung von Eigenschaften, die im Prinzip in allen Menschen angelegt sind, heraus. Sich für und mit der sozialen Umgebung durch höchstmöglichste Aktualisierung seines Potentials in volle Entfaltung zu bringen, ist, was der deutsche Aktionskünstler Joseph Beuys (1921-1986) mit „Jeder Mensch ist ein Künstler“ zum Ausdruck brachte. An den paradigmatischen Gestalten von Linné und Hammarskjöld wird deutlich, dass Internationalität und Verwurzelung in der eigenen Nation programmatisch verbunden gehören: demnach sind nur weltoffene Bürger wahre Schweden – so wie Deutschheit sowohl bei den Aufklärern wie auch bei den Romantikern mit weltbürgerlicher Gesinnung verknüpft war. Für Novalis (1772-1801) etwa bedeutete Deutschheit eine Verbindung von „Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität“.

Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert bezog der dänische Aufklärer Jens Baggesen (1764-1826), der sich, wie Hammarskjöld, an der Philosophie und Poesie Friedrich Schillers (1759-1805) orientierte, den erhabenen Standpunkt des Weltbürgers: „Ich war Weltbürger, ehe ich Staatsbürger wurde, und ich bleibe Weltbürger, wenn ich einmal aufgehört habe, Staatsbürger zu sein. Als Weltbürger betrachte ich alles von einem erhabenen Standpunkt. – Was sich aus dem Gesichtspunkt des Untertanen als unübersteigbarer Berg darstellt, verliert sich aus dem Gesichtspunkt des reflektierenden Denkers, der das Ganze übersieht, zum Ameisenhaufen. Arbeite im Einzelnen, heißt es, aber denke im Ganzen“ – und er formulierte damit eine frühe, wenn nicht sogar die erste Fassung des im 20. Jahrhundert populär gewordenen Slogans Global denken – lokal handeln. Der Mensch, so ließe sich folgern, muss erst wieder zum Weltbürger werden, der wieder sehen kann, was er, seit er zum Staatsbürger geworden war, nicht mehr hat sehen können.

Mystische Versenkung und technische Einrenkung waren für Hammarskjöld zusammenwirkende Momente von Gestaltung, dazu ein Wille zur Hingabe verbunden mit eigensinnigster Steuerung; wie ein Schiff, das sich den überwältigenden Kräften der hohen See ausliefert, um darin genau seinen Kurs zu halten. Er war ein fabelhaftes Wesen, das den Kosmos oder die Landschaft wie beseelte Wesen wahr zu nehmen vermochte, während es die Krisenfelder der Welt nüchtern analysierte und administrierte. Hammarskjölds Staatskunst lässt die Magie nicht hinter sich, um die Probleme der Welt vernünftig zu lösen, sondern sie pendelt zwischen der Mystik und der Technik, um vernünftig handeln zu können.

Wenn sich die G 20, wie zuletzt in Hamburg, mit all ihren Schlachtenbummlern im Gefolge treffen, sprechen Politiker und Journalisten vom Ansatz einer Weltregierung. Sie leben, wie die globalen Aktivistinnen, ganz im Medium der Politik, treu dem Slogan der 68er-Bewegung „Alles ist politisch.“ Hammarskjölds Lebenswerk wäre ihnen kein Zeichen am Weg zum Fortschritt, eher ein Stolperstein.

Dag Hammarskjöld starb in der Nacht auf den 18. September 1961, weil sein Flugzeug in Afrika abstürzte. Mit ihm starben 15 Menschen. Offizielle Untersuchungen sprachen von einem Unglück, doch weder damals noch heute traut(e) die Öffentlichkeit dieser Auskunft. Unter den vielen Mutmaßungen und Erklärungsversuchen zu seinem Tod sind Verschwörungstheorien nach wie vor die glaubwürdigsten.

Der UN-Generalsekretär war im Kongo eigensinnig unterwegs gewesen, um die Abspaltung der rohstoffreichen Provinz Katanga rückgängig zu machen. Dazu hatte er im Sommer 1961 die Blauhelme in zwei Aktionen, die sich gegen ausländische Söldnertruppen richteten, erstmals offensiv eingesetzt, was ihm eine Resolution des UN-Sicherheitsrates zwar formal erlaubte, für die nicht ausreichend informierten und konsultierten Großmächte aber überraschend kam. Als US-Präsident Kennedy (1917-1963) davon hörte, soll er außer sich gewesen sein. Doch ein halbes Jahr nach Hammarskjölds Tod, am 14. März 1962, bat er dessen engsten Mitarbeiter, Sture Linnér (1917-2010), zu sich in das Weiße Haus, um sich für seine, wie er bekannte, ungerechtfertigte Kritik an Hammarskjölds Kongo-Politik zu entschuldigen. Er ergänzte: „I realize now that in comparison to him, I am a small man. He was the greatest statesman of our century.“ Als einziger Mensch bisher, bekam Dag Hammarskjöld den Friedensnobelpreis posthum verliehen.

Mit der Hinrichtung Hammarskjölds haben die dafür verantwortlichen Weltmächte eine kosmopolitische Ordnung für den Planeten erledigt – und sie wiederholen diese Erledigung von Mal zu Mal in den zum Konferenztourismus verkommenen internationalen Treffen, die dem Schaulaufen nationaler Repräsentanten und dem Kuhhandel mit nationaler Interessen dienen.

Im September 1961 erschien die Nr. 1 der Serie Perry Rhodan. Der deutsche Sciencefiction-Autor, Karl Herbert Scheer (1928-1991), hatte eine Figur geschaffen, die die Welt vor dem Untergang zu retten und die Menschheit zu vereinen versteht! Das Vorbild für die Figur, so behauptet eine schwedische Studie, war Dag Hammarskjöld. Die Weltregierung wurde erfolgreich utopisiert. Auf der Welt ist kein Platz für sie – weil überall Politik ist.