von em.o. Univ.-Prof. Dr. Konrad Köstlin
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Lange sah es so aus, als ob in Europa die Regionen zum neuen Ordnungssystem werden sollten. Dafür stehen die UNESCO mit ihrem regionalisierten „immateriellen Kulturerbe“ oder die Regionalförderung der EU – LEADER Programme wie auch die 113 „Genussregionen“ des österreichischen „Lebensministeriums“. Sie und viele andere markierten ein neues Denken über die Region.
Die Nationalstaaten hatten an ordnender Kraft und vertrauter Verlässlichkeit in Politik, Polizei oder Justiz angesichts von Skandalen verloren. Sie delegierten, liberalisierten, privatisierten und deregulierten: Mist und Müll, Post und Eisenbahn. „Outsourcen“ war ein Stichwort und die aktuelle amerikanische Leitlinie des 45. Präsidenten der USA zielt konsequent auf einen Abbau des Staates. Nicht nur die USA als Staat sollen planvoll dekonstruiert werden, auch in Europa zeigen sich solche Zeichen der Entsolidarisierung der Gesellschaft, die das Stichwort für eine gefühlte Bedrohung ist.
Lange erlebten wir, dass Grenzen immer weniger sichtbar und spürbar wurden. In Österreich wurden verwaiste Grenzbauten verkauft und es sah so aus, als würden Hoheitsakte an den Grenzen verschwinden, wie sie durch Schlagbaum, Grenzbeamte, Passkontrolle und Stempel die Präsenz des Staates signalisiert hatten. Die neuen Migrationen nach dem September 2015 haben diese Situation verändert. Eben werden in Rom die 60 Jahre EU gefeiert. Wir haben nach der Wende von 1989 erlebt, wie sich Demokratien auszubreiten suchten und merken nun, dass Tendenzen zur Diktatur sichtbar werden, illiberale Demokratien entstehen und Grenzregimes wieder installiert werden. In der Tat sah es lange so aus, als ob der Wegfall der Grenzen zur Betonung neuer, aber diesmal durch vielfältige kulturelle Akzente bestimmte Grenzen führen würde.[1]
Die Bundesländer haben föderalistisch argumentierend und regionalistisch agierend, Programme aufgelegt, die auch auf Volkskultur gegründet schienen und mit Begriffen wie Landesidentität verknüpft wurden. Aktionen wie der „Dirndlgwandsonntag“[2] werden als Ausdrucksmittel dieser Identität angeboten und „Landesanzüge“ entworfen, an eine manchmal nur schütter überlieferte regionale Kleidung angelehnt. Ein ausdrückliches Wahrnehmen kultureller Unterschiede im Alltagsbewusstsein wurde verstärkt, als die Rede von den „Werten“ wieder aufkam. Kulturelle Besonderheiten wie bestimmte Vorstellungen von Reinlichkeit, Unterschiede im Zeitmanagement, in den Frauenbildern und der Mentalität wurden in der Konfrontation mit dem Islam in den Vordergrund gerückt.
Allerlei Regionales
Längst schon gehörten ja als typisch bezeichnete Speisen, besondere regionale Produkte und Elemente der Volkskultur wie Trachten oder die Tamburizza zur Inszenierung des Regionalen. Der Bundespräsident wurde zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele 2017 von einem Trachtenpärchen, zwei Kindern, begrüßt. Die Präsentation dieser Inszenierungen kann unversehens auch zur Ausdrucksform gegen das Andere, Fremde werden. Die meisten Migranten sehen dieses Eigene nicht als das Ihre an – werden freilich auch nicht wirklich eingeladen, das zu tun. Die beiden Kandidaten für die 2016 zur Wahl zum Bundespräsidenten, weit rechts der Eine, linksliberal der Andere, ließen sich beide in Tracht als Vertreter der Heimat plakatieren.
Bestehende Bilder wurden neu aufbereitet, wurden bearbeitet. Regionen wurden und werden auch „erfunden“: Die Mostarrichi-Region oder das Blaufränkischland sind harmlose Beispiele aus dem Bereich des Marketing, in denen Versatzstücke des Regionalen überhöht dann auch ins Heimatliche umschlagen können. Das österreichische Landwirtschaftsministerium offeriert, in diesem Kontext als „Lebensministerium“ bezeichnet, 113 Genussregionen[3](mein Favorit dabei ist das „Mittelkärntner Blondvieh“), so als ob Österreich ein Monopol auf Genuss habe und sich dieser vor allem auf Essen und Trinken beschränke. Adalbert Stifter, der verfressene Phäake, wird da nicht selten zitiert. Es gibt Argumente, die einen Bedeutungsgewinn des Regionalen als Kraftpaket gegen eine Globalisierung setzen und mit Kultur agieren. Globalisierung, zwar eigentlich vor allem eine ökonomische Angelegenheit, wird dabei meist als eine kulturelle gedeutet und im Alltag auch so erfahren. So verweist die Rede vom ‚europäischen Einheitsbrei‘ auf eine als kulturell verstandene Sorge. Heute erscheint die Europa-Schimpfrede veraltet, weil inzwischen nicht nur China und bald Indien, sondern nun auch die USA als Bedrohung am Horizont stehen. Regionalität wäre dann kulturelles Unterfutter oder aber Spielwiese als Kompensation der Befürchtung vor ökonomischer Bedrohung.
Es wäre unrichtig zu unterschlagen, dass Region durchaus auch transnational gedacht und als Planungsgröße aufgeboten wird, wenn es um Ökonomie geht, wie die acht grenzüberschreitenden Arbeitsgruppen im Burgenland zeigen.[4] Sie benennen ökonomisch dominiert neben Raumordnung, Raumentwicklung, Verkehr und Information und Wirtschaft den Tourismus, dem „Kultur und gemeinsames Kulturerbe“ untergeordnet sind. Nicht vergessen seien Natur-, Umwelt- und Gewässerschutz, öffentliche Sicherheit und Katastrophenschutz, Gesundheit und Soziales, Bildung und Jugend und Beschäftigung, die man im weiteren Sinne alle auch unter Kultur subsumieren könnte.
Viele Euregios, wie im Waldviertel der grenzüberschreitende Wirtschaftspark Gmünd/Ceské Velenice leben (noch) von den Unterschieden im Lohnniveau. Älter sind kulturelle Zusammenschlüsse wie die “Alemannische Internationale” der 1970er Jahre. Damals hatte der Poet André Weckmann (1924-2012) den “Dialekt als Waffe” propagiert und das Alemannische als eine durch gemeinsame Sprache und Kultur von Vorarlberg über das deutsche Baden (das alte Vorderösterreich, die „Schwanzfeder der Reiches“), die Schweiz und das Elsass verbundene Region zusammengefasst.[5] Lokale Kompetenz sollte betont und im Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl (das wurde dann auch nicht gebaut) und andere Planungen gesetzt werden. Dieses auf die alemannische Sprache[6] basierende Regionale richtete sich gegen die „Fremdbestimmung“ durch die fernen Metropolen, in denen man wie in Stuttgart oder Paris, „iser Sproch“, unsere Sprache, nicht verstehe. Lehrer, Liedermacher und Poeten wurden die Sprecher dieser neuen Gemeinsamkeit. Es bedurfte der Deuter, die eine als gemeinsam aufgefasste Sprache und Kultur zum Eigenen erklärten. Als Interpreten dieser Idee sprachen sie vom Widerstand gegen die Zentralen und zitierten Historisches, etwa Lieder aus dem Bauernkrieg, die sie sich neben neuen Texten und Melodien verbreiteten.
Das Wissen der Wissensgesellschaft
Was sich in Europa „Region“ nennt, hat also eine große Bandbreite und reicht vom kulturellen Identitätsangebot bis zur ökonomischen Planungsgröße. Mit Signalen einer „corporate identity“ ausgestattet, liegen diese in den Händen von Deutungseliten. Moderne Gesellschaften haben die Produktion von Wissen über sich selbst an Deutungseliten delegiert. Ihnen ist aufgetragen, Wissen für die Gesellschaft und auch die Kritik an ihr bereit zu stellen. Nun haben diese kein Monopol, wie einst etwa die Kirche, sondern warten, von Interessen geleitet, mit unterschiedlichen Antworten auf. Beispiele bieten widersprüchliche Haltungen zur Globalisierung oder zu Glyphosat auf den Äckern, Haltungen zur 3. Startbahn des Flughafens Wien, zu Umwelt und Gesundheit, oder zu fossilen Brennstoffen oder banal zu Speisefetten, zu Öl, Butter oder Margarine: Wissen wird in Geschichten verpackt und zum Bekenntnis, ja zur Moral. Zu allem gibt es schon lange mindestens eine „alternative truth“. Daher fragen wir: Wer hat uns diese Geschichte erzählt? Wann und in welchem Interesse ist das geschehen? Das Wissen über uns und unsere Gesellschaft fällt nicht vom Himmel. Es wird hergestellt. Dabei wird es oft mit vertrauten Bildern unserer Gesellschaft und ihren Lebensbedingungen verknüpft. Es sind Bilder, mit denen die Menschen zurechtkommen sollen – Bilder und Erzählungen über ihre Herkunft und ihr Leben, ihre Fähigkeiten. Das schließt ein, dass solches Wissen immer interessengeleitet ist. Wissen kann also erfunden werden. Wer die jüngsten Debatten um die „alternative truth“ verfolgt hat[7] der merkt, dass dahinter Grundsätzliches steckt. Es zählt die Behauptung und die Macht, diese zu verbreiten. Deutlich geworden ist: es gibt eine prinzipielle Kritik an der Produktion von Wissen in unserer Gesellschaft.
„Menschen sickern durch unsere südliche Grenze ein“, hatte Donald Trump im Wahlkampf gerufen und sich eine „beautiful wall“ entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze gewünscht. Doch ist – ich traue hier meiner Quelle – die umgekehrte Migration aus den USA nach Mexiko seit Langem bedeutender als die von Trump als Bedrohung geschilderte. Tatsächlich verläuft die Wanderung seit einiger Zeit eher von Norden nach Süden. 2010 bis 2014 haben zwar 870.000 Mexikaner die Grenze nach Norden überschritten, über eine Million aber ging von Norden nach Süden – und zwar aus wirtschaftlichen Gründen, weil der Zugang zu einem guten Job nicht mehr so sicher sei wie zu Zeiten des Baubooms. Inzwischen haben sich eine halbe Million Kinder mit amerikanischer Staatsbürgerschaft in mexikanische Schulen eingeschrieben. Man nennt sie Transfronterizos. [8] Wir sind also hellhöriger geworden sind, wenn es um Wissen geht. Das Leben wird auch dadurch komplizierter, weil wir nun genauer fragen müssen, wer uns diese Geschichten so erzählt und wer ein Interesse daran hat, dass dies so geschieht. Was man in der Wissenschaft Quellenkritik nennt, praktizieren wir auch in unseren Alltagen.
Zudem haben sich die Instanzen vervielfacht, die für sich in Anspruch nehmen, Wissen zu vermitteln. Unterschiedliche Medien und ihre Agenturen beliefern uns mit oft widersprüchlichen Informationen, mit eigenen Apps und Blogs. Immer häufiger werden von uns Entscheidungen verlangt. Schon, weil wir nicht alle Aussagen überprüfen können, ist die wichtigste jene, wem wir trauen wollen.[9] Auch der Wohlklang des Wortes Euregio kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Region wie das Burgenland oder andere Regionen auf vielerlei Weise, auch als eine Art Dritter Welt im eigenen Land erzählt werden kann. Denn dort sollen die Probleme der Ballungsräume entsorgt oder geheilt werden: als Urlaubsregionen werden deren Mängel als Charme ausgewiesen, sommers kulturelle Bedürfnisse der Stadtmenschen aufs Land verlagert, als Kultur in Festspielen und Sommertheatern aufgeführt. Heimat, so hat Martin Walser einmal gesagt, sei „vielleicht das freundlichste Wort für Zurückgebliebenheit.“ Heimat aber hat neue Konturen bekommen. Und zurückgeblieben, ruhig und freundlich ist Heimat heute nicht mehr. Sie gilt oft, weil sie immer weniger selbstverständlich ist und ihr immer mehr aufgetragen wird, als Gegenpol der Globalisierung. Zugleich spielen sich in ihr mehrere Deutungen ab. Verschiedene Vorstellungen von Ansprüchen an die Heimat sind wiederum abhängig von den Geschichten, die uns die verschiedenen Deuter erzählen (und welchen trauen wir?). Regionalisierung und Globalisierung, die zwei Seiten derselben Medaille, denn das Regionale blüht auf und unter dem Ansturm der Globalisierung. „Die Himmelfahrt des Schinkenfleckerls“[10] als Himmelfahrt der Inszenierung der regionalen Küche ist eben nicht ohne McDonald’s denkbar, denn McDonalds war einmal als Angriff auf die heimische Küche kommentiert worden und hat die heimische Küche erst wieder zum Thema gemacht. Regionalismus, Lokalismus und Globalisierung mit McDonaldisierung bedingen einander. Wer sich heute zum Heurigen niedersetzt, zelebriert daher auch ganz ausdrücklich eine Gegenwelt, setzt auf Ruhe, Zeithaben und Entschleunigung: Wort (und die Sache) wären nicht denkbar ohne die Erfahrung (oder die Deutung) der Beschleunigung der Welt. Neuer Lokalismus und ausdrückliche Langsamkeit sind denkbar als Antwort auf die Globalisierung und Geschwindigkeit. Wir reden über ein neues Regionales, neu ist es durch unsere Erfahrungen. Dabei ändert sich Vieles. Die regionale Kost wird nun eine ausdrückliche Entscheidung, McDonalds sei also Dank. Darüber reden wir.
Geschichten erzählen: Aushandlung von Raum
In der Presse vom 13. März 2017 wurde der burgenländische Landeshauptmann über die Zusammenarbeit mit dem Innenminister befragt. Er sagte: „Wir im Burgenland arbeiten gut mit ihm zusammen. Das ist uns wichtig, weil wir das sicherste Bundesland bleiben wollen.“ Und er führte aus, zum Recht auf Demonstrationen gefragt: „Das Demonstrationsrecht ist bei uns kein großes Thema, weil es kaum Demonstrationen gibt. Außer vielleicht, wenn Rot-Blau angelobt wird. Dann kommen ungefähr fünf, sechs Personen.“ Ähnlich hatte Verteidigungsminister Peter Doskozil mitgeteilt: „Das war die erste Demonstration in Eisenstadt, an die ich mich als Polizist überhaupt erinnern kann. Ich war als Einsatzleiter vor Ort.[11] Wirkliche Konflikte scheint es also nicht zu geben, oder sie werden anders ausgetragen.
Denn, was heißt Demonstration? Sind der Name Pannonien und der Wunsch, die Akademie so zu benennen nicht auch eine Demonstration? Ist dies nicht der Versuch einer Neuaushandlung von Raum als Versuch eine neue, andere Erzählung anzubieten? Das Aushandeln eines Raumes geschieht an sich ständig. Räume verändern ihre Bedeutungen und Konturen dadurch, dass Menschen, einheimische und auswärtige, auch als Urlauber, sich in ihnen bewegen, in und mit ihnen umgehen. Sie tun dies von Innen und Außen. „Aushandeln“ setzt zwar einen bewusst angestellten Prozess voraus, doch tun Menschen dies auch, indem und wie sie in diesen Räumen agieren, vernünftig, human, wenn’s gut geht. Das kann auch als Reaktion auf Setzungen und Deutungen von oben und von außen geschehen.
Pannonien wird dann Zeichen eines bewussten Prozess, der das Land neu aushandelt. Viele sind in Vergangenheit und Gegenwart zugezogen[12]: Regionen waren und sind keine naturwüchsigen Einheiten. Es sind die Menschen und die Verhältnisse unter denen sie leben, die Region sind und sie ausmachen und ihnen Bedeutung geben.[13] Städte und Regionen unterscheiden sich in den Diskursen über sie. Das ist banal. Theorien interpretieren derzeit vor allem Städte als Opfer der Globalisierung.
Der Streit um McDonald‘s und Starbucks und deren gleichförmige Architektur, die vor allem den Investoren diene, führt zur Klage, Länder und Städte verlören ihre Eigenart durch die weltweit gleichförmige Architektursprache. Dabei hat Raum als kultureller Begriff mit seinen Akteuren zu tun, mit Menschen, die ihn benutzen und damit verändern und ständig neu deuten, indem sie ihn nutzen. Und da fällt der gleiche Schein bei prinzipieller Andersartigkeit auf:
Die Busse in Land und Stadt sind zwar äußerlich gleich, doch in der Stadt kommen sie alle zehn Minuten und am Land alle zwei Stunden (und richten sich nach den Schulzeiten). In der Stadt rennen die Leute dem Bus hinterher, am Land warten sie ruhiger auf den nächsten Bus, obwohl sie länger warten müssen. Und McDonald‘s bedeutet für die Leute auf dem Land etwas anderes als für die Leute in Wien oder Berlin. Am Land kann es ein Familienrestaurant sein und als fortschrittlich, als „anders“ angesehen werden. In Wien werden sie medial vor allem als Zeichen kulturellen Verfalls gedeutet (aber natürlich dennoch genutzt).Da mögen die Häuser von außen und innen gleich aussehen, sie funktionieren unterschiedlich. Der gleiche Schein bei prinzipieller Andersartigkeit gilt auch hier: Immer kommt es auf den Kontext an, also wer, wie und wann damit umgeht. Die beklagte Auflösung des Raums gibt es solange nicht, solange Menschen im Raume agieren. Wo auch immer sie sich bewegen, konstruieren und konturieren Menschen Räume.
Den Raum machen
Räume sind also keine Container, haben keine Größe, die sich jedem gleich erschließt und über die Übereinstimmung besteht. Jugendliche „erfahren“ ihre Beschaffenheit anders als Ältere, Hausfrauen anders als Männer. Je nach Geschlecht, Alter, Erfahrung und Einkommen werden Räume unterschiedlich bewertet und wahrgenommen. Sie sind nicht gesichtslos, sind keine Nicht-Orte, sind nicht einmal bloß Räume des Transits.[14]Selbst Flughäfen werden anders genutzt als das ihre Planer vorsahen. Menschen verbringen ihre Tage und Nächte wie in dem Steven Spielberg-Film „The Terminal“ (2004), in dem Tom Hanks einen staatenlosen Mann spielt. Der ist auf dem Flughafen New York gestrandet und richtet sich dort ein. Der Film basiert auf realen Fällen an mehreren Orten. Über Räume, ihre Aneignung und ihre Geschwindigkeiten[15] und über die Zukunft der Stadt wird bald deutlich mehr von den Unterschieden die Rede sein wird als von ihrer behaupteten Eigenschaftslosigkeit. Es gibt den Wettkampf der Metropolen und auch den der Regionen um Alleinstellungsmerkmale. Das Burgenland führt einen solchen um das „sicherste Bundesland“. Es ist ein Wettkampf, der über Bilder, Begriffe und Erzählungen ikonographisch geführt wird. Und diese Eigenheiten werden gelebt.
Zum Hier und Jetzt
Und nun gibt es Kritik im Burgenland an einer politischen Ehe in Rot-Blau. Manche erklären (noch spöttisch) das Burgenland in dieser Hinsicht zum Vorreiter, Avantgarde sagt man sonst dazu. Und das in der Provinz? Nun hat das Wort provinziell als Begriff kaum noch ein Geschmäckle. Es bedeutet nicht mehr kleingeistig und konservativ oder gar engstirnig. Nein: Es steht vielleicht gegen Urbanes, das sich als gar nicht so weltoffen erweist wie gedacht oder erhofft. Die Balance der Gleichzeitigkeit von Globalität und Regionalem bleibt zu diskutieren und vor allem zu leben. Und da kann das Pannonische als Spange zwischen dem Anspruch des Weltbürgerlichen und selbstbewussten Konturen des Provinziellen taugen. Die Gegenwart, und das ist das Neue an unserer Gegenwart, drückt sich irgendwie immer in die Geschichten herein, auch wenn man sie nicht ausdrücklich nennt.
Was soll man tun? Ich wollte, ich hätte eine Antwort. Sie könnte lauten, dass Pannonien ein Kürzel für eine Welt sei, in die das Wort „Wurzeln“ nicht mehr passt, auch wenn in dieser Welt dieser Anspruch immer wieder mit Waffen durchgesetzt werden will. Wurzeln implizieren die Vorherrschaft alter Rechte, fixieren Rechte der Alteingesessenen. Sie führen sie zur Entfremdung vom Eigenen und machen die Kontrollierenden zu Kontrollierten. Autonomie, Sinn, Identität und Authentizität, Respekt und Anerkennung wären die anderen Begriffe, die einem Prozess der demokratischen Sensibilisierung für die Vielfalt der Stimmen aufhelfen, Aushandlungsprozesse und Interessenkonflikte.
Pannonien machen
Beim Wort Pannonien kann man mit Geschichte und Geschichten spielen. Den Namen Pannonien haben „die Römer“ von dort ansässigen Leuten, die sie als Volk ansahen, abgeleitet. Die Grenzen dieser Provinz aber waren nie von Dauer, ein guter Hinweis für das Heute, das sich nach allen Seiten offen nicht an die Verwaltungsgrenzen des Bundeslandes hält. Über das Bundesland hinaus signalisiert Pannonien eine prinzipielle Offenheit in die Welt hinein: Im kleinen Raum Prinzipien für ein bessere Welt diskutieren – kein Tagesgeschäft, sondern eine Daueraufgabe. Mehr kann ich Ihnen nicht bieten als das Pannonien machen. Pannonien ist kein natürliches oder erworbenes Merkmal, das sich lediglich in Denken, Fühlen und Handeln einer räumlichen Identität niederschlüge, sondern es betont die aktive Herstellung und Darstellung des Raumes Pannonien im Alltag. Man hat oder lebt es nicht einfach so, sondern dieses Verhalten ist orientiert am Wissen darüber, wie man sich als Mensch mit dieser Welt verhält, tendiert so zum „Welt-ge-wissen“, einer aktiven Hervorbringung eines Verhaltens, das ein Beobachter als humanistisch deuten kann.
Pannonien kann so als Übereinkunft über eine soziale und räumliche Konstruktion begriffen werden und wäre ein Produkt performativer Tätigkeiten, ein Ansatz, der das Besondere, nämlich den eigenen Anteil betont, wäre das Ergebnis von Handlungen, an denen wir beteiligt sind. Diese Offenheit im Archipel Pannonien steht gegen die neue Schließung von Grenzen, das Einzäunen. Grenzen, das war etwas, was wir hinter uns hatten und das für einen Wimpernschlag von 25 Jahren immer weniger wichtig geworden schien. Bald nach dem Ende des Eisernen Vorhangs zerteilten sich Reiche wie Jugoslawien und die Sowjetunion in eine Vielzahl kleiner und bis heute zerrissener Staaten. In den Grenzregimen zeigt sich die Macht der neuen Staaten. Russland annektiert die Krim und schafft gerade neue Grenzen in der Ostukraine in einer neuen Form des Krieges, den man hybrid nennt und im Gegensatz zu früher nie offiziell erklärt wurde. Wir waren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor Glück besoffen von einer europäischen Friedensidee, einem sympathischen Narrativ, einer Erzählung, die uns froh in die Zukunft blicken ließ. Man sprach sogar vom Wunder. Heute sind wir froh, wenn die Gegenwart in turbulenten Zeiten einigermaßen funktioniert. Auf politische Allianzen, wie hier im Burgenland, waren wir ebenso wenig vorbereitet wie auf Brexit und Trump, die wir nicht für möglich gehalten hatten. Turbulenzen werden uns bleiben. Das Archipel Pannonien ist ein Raumbild. Homogene Regionen gibt es nicht, hat es nie gegeben, sie sind Gebilde an denen alle Menschen beteiligt sind, weil sie in ihnen handeln, sie aushandeln. Sie tun das durch ihre bloße Existenz. Gerade das Burgenland ist voll von Prägungen kultureller Verschiedenheiten, von Inseln sozio-kultureller Eigenheiten. Und deshalb auch das Bild vom Archipel am Ende: Ein Archipel ist eine Region, die aus einer Gruppe von verschiedenen Kultur-Inseln und den Gewässern zwischen ihnen besteht, aber sie gehören zusammen. So wie Globales und Regionales voneinander leben und aufeinander bezogen sind und zusammengehören, weil sie sich gegenseitig hergestellt haben, gilt das auch – recht verstanden – für Provinzialität und gleichzeitige Zuständigkeit für die Welt.
Das ist kein spezifisches Merkmal nur für die Idee Pannonien. Doch es regt an, Pannonien neu zu diskutieren und mit Inhalten zu füllen. Recht verstanden handelte es sich um ein Leben, mit dem man im Lokalen so handelt wie man es für die Welt tun soll. Welt-ge-wissen ist überall not-wendig. Freilich sollte das in Pannonien Geübte nicht zur Radikalisierung der Region führen, sondern als humanes Muster für eine Welterfahrung hilfreich sein. Heute droht die Logik des Ortes mit seiner Lokalvernunft überrannt zu werden von der Logik des Marktes, einer neuen Erzählung, die alte Solidaritäten auflösen will und besagt, jeder habe sich um sich selbst zu kümmern. In einer Welt, in der wir immer weniger Gewissheiten kennen und angesichts öffentlicher Debatten voller Ratlosigkeit kaum erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, ist es die Lokalvernunft als Weltvernunft und nicht nur das Klima, das uns eine uns eine weltweite Perspektive aufzwingt
em.o. Univ.-Prof. Dr. Konrad Köstlin
Er studierte Volkskunde, Soziologie und Philosophie an den Universitäten Tübingen und München. Er lehrte in Kiel, Regensburg und Tübingen. Von 1994 bis 2008 war er Vorstand am Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien.
[1] Konrad Köstlin: Vanishing Borders and the Rise of Culture(s). In: Ethnologia Europaea 29,2(1999), S.; Wiederabdruck in Ethnologia Europaea 47,1 (2017), S.58-64
[2] www.wirtragennoe.at/ (20.6.2017)
[3] www.genuss-region.at/ (18.07.2017)
[4] https://www.burgenland.at/land-politik-verwaltung/politik-verwaltung/euregio/organisation/arbeitsgruppen-der-euregio/ (20.06.2017)
[5] https://hpecker.wordpress.com/zur-person/publikationen/dialekt-als-waffe/ (20.06.2017)
[6] Längst gibt es Wikipedia auch auf alemannisch. https://als.wikipedia.org/wiki/Alemannisch (20.07.2017)9
[7] Donald Trump hatte höhere Teilnehmerzahlen bei seiner Angelobung gesehen als bei der seines Vorgängers, obwohl Berichte und Dokumente das Gegenteil aussagten.
[8] Lilla Puskás : Ein Leben, zwei Länder. Die Nase voll von den USA. Mexikanische Filme zeigen die Heimkehrer aus dem Norden.In: Süddeutsche Zeitung vom 8.2.2017 (Feuilleton)
[9] Man denke – nicht nur – an die Gratiszeitungen, aus denen gymnasiale Fahrschüler morgens ihre Informationen schöpfen.
[10] Konrad Köstlin: Die Himmelfahrt des Schinkenfleckerls. Referat zur Eröffnung Haus der Regionen-Volkskultur Europa. In: Schaufenster Volkskultur. Nachrichten zur Volkskultur in Niederösterreich 6/2004, S. 4-5
[11] „Niger“. (Interview: Florian Klenk und Josef Redl) In: Der Falter 27/17 vom 5.7.2017
[12] Über „Warum Pannonien?“ nachzudenken war mir aufgetragen worden.
[13] Das muss kein Mimikry sein. Niemand hat nach Hans Albers den Hamburger Jung mit Schifferklavier oder Gitarre, mit Seemannspullover etc. so überzeugend gegeben wie der in Niederösterreich geborene Freddy Quinn.
[14] Marc Augé: Orte und Nicht-Orte, wie Anm. 12
[15] Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit der Zeit umgehen. Piper, München / Zürich 1997