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Der Verzehr der Tischgemeinschaft und die Ver-Lagerung des Humanen.

von Hans Göttel

Im Lichte dieser Pandemie, die es mit sich bringt, dass philia und ekklesia aufgehoben, ja unnötiges öffentliches Verweilen strafbar werden, taucht das Bild von einer rettenden Convivialität auf, das zur großen Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts von Giovanni Boccaccio (1313-1375) gestaltet wurde. Im untergehenden Florenz überredet eine Frau ihre Freundinnen zum Auszug auf ein Landgut, um sich und die Menschlichkeit zu bewahren. Sie nehmen drei junge Männer mit und überlegen, während sie gut essen und trinken, was sonst noch zu tun wäre. Das Spielen wird erwogen, doch wieder verworfen, weil es immer Gewinner und Verlierer produziert. Schließlich erzählt man einander Geschichten, zunächst die bekannten und weil die alt sind, erzählt man sie neu, etwas anders, mit neuer Pointe vielleicht oder unter Verdrehung der Moral von der G´schicht, wenn etwa sexuelle Freizügigkeit und Sinnengenuss über die christliche Sittenlehre gestellt werden. Der Wiener Kulturphilosoph und Schriftsteller Egon Friedell (1878-1938) hat in diesem Anbruch neuen Denkens den Beginn der Neuzeit ausgemacht. Im Grauen der Pestpandemie, die damals einen Großteil der europäischen Bevölkerung dahinraffte und entsetzlich unmenschliche Formen des Umgangs mit den Kranken mit sich brachte, kümmert sich eine noble Tischgemeinschaft im Abseits um eine qualitative Erneuerung des Lebens.

Eine gelungene Tischgemeinschaft bricht und teilt das Brot, um das Weitere zu empfangen: den Geist, der sich freilich nur herablässt bei bekömmlicher Größe der Versammlung, die vom Hauch der Sprechenden erreicht werden kann und achtsam ist „mit wem man isset“ (Montaigne). Wie klein Tischgemeinschaften auch sind, sie sind Kunstwerke, die Öffentlichkeit kreieren können.

Auch die Demokratie im alten Griechenland wurde mit dem öffentlichen Organisieren von Essen und Trinken in Gang gebracht, als nach der rituellen Schlachtung von Stieren oder Ochsen die Stücke zwischen den Teilnehmern aufgeteilt wurden. Die Polis keimte an einer Tischgemeinschaft, die sich um saftige Fleischstücke versammelte. Aus der schmackhaften Tischgemeinschaft wuchs die politische Gemeinschaft und mit ihr die grassierende Geschmacklosigkeit.

Das Trinkgelage (Symposion) kann als antiker Ausdruck dessen verstanden werden, was heute Zivilgesellschaft bezeichnet wird, wiewohl die damaligen Teilnehmer ziemlich wehrhaft und bewaffnet waren, denn die Teilnahme am Gelage bedeutete damals, anders als bei Zivilgesellschaften heute, eine durchaus gewagte Einlassung. Einen, der es wagte, nannte man Theoros, den Theoretiker, Teilnehmer an einer Festgesandtschaft, die nie recht wissen konnte, ob nicht ein Hinterhalt lauert, schon gar nicht, was im dem durch Trinksprüche, Rededuelle und Flötenspielerinnen angefeuerten Geschehen ausgelöst wird. Hier interferierten die Sphären, die wir heute separiert als die religiöse, die öffentliche und die private wahrnehmen, und hier bildete sich das Freundschaftsband (philia) heraus, das für gesellschaftlichen Konsens sorgt.

Auch die Einladung zu einer italienischen tavolata ist zunächst eine Freundschaftsgeste. Wenn eine Lange Tafel, weiß bezogen und üppig gedeckt, die Menschen der Stadt zusammenführt, so erfahren sie ihr Vereinigtsein in einem gestalteten Gebilde, einer Mahlzeit, die für ihr Zusammensein eine gute Zeit aufspannt.

Kumm, sagt der Wiener, wenn er freundlich einlädt. Es klingt, wie die lateinische Präposition „cum“, die das ebenbürtige Miteinander im gemeinsamen Tun für die Lebendigkeit beisteuert, die sich also convivial, gastlich, fröhlich auch im Sinne von „ein wenig beschwipst“ einfindet, sofern ein Tisch, um den man sich versammeln kann, ein Krug Wein, den man gemeinsam leeren kann, und ein Brot, das man miteinander teilt, vorhanden sind – und eine Kerze noch, so verlangt es Ivan Illich, denn man weiß nie, wer zu später Stunde noch kommt.

Entlang der alten Weisheit „Corruptio optimi pessima est“, die der in Wien geborene Theologe und Philosoph Ivan Illich (1926-2002) zu verkünden pflegte, kann in Zeiten der Pandemie gerade die Tischgemeinschaft bloßgestellt werden: dicht aneinander zu sitzen, das Mahl zu teilen und im hauchenden Austausch der Worte einander einzuatmen, mithin sich seelisch zu vereinigen, wird als Bestes zur Gefahr. Gerade der Hauch des Geistes im Wärmestrom von freundschaftlicher Geborgenheit bringt nun die tödliche Krankheit. Kann es sein, dass die Bildung lebendiger Gemeinschaften nicht mehr möglich ist?

Die Corona-Gefahr wird hoffentlich bald vorbei sein, die Auszehrung des Aromas der Tischgemeinschaft wird weitergehen. Dafür ist nicht allein die Pandemie zuständig. Die Kirche engagiert sich auch, wie eine kleine Geschichte von Charles E. Moore von einer Bruderhof-Gemeinschaft in Denver, Colorado zeigt: „Es war 1972. Ströme unzufriedener Jugendlicher suchten nach etwas anderem. Zwölf Jahre lang drängten sie sich jeden Samstagabend um einen gemeinsamen Tisch im Obergeschoss eines alten historischen Kirchengebäudes. Es war einfach, informell, natürlich, normal, lebendig. Dann schlug ein Pastor vor, dass sie sich sonntags zum Gottesdienst treffen sollten. Seitdem treffen sie sich hier, und weil sie zu viele Leute geworden und zu beschäftigt sind, essen sie nicht mehr zusammen.“ Dabei würde Gott, so heißt es bei Jesaja, allen Völkern ein fettes Mahl machen, ein Mahl von reinem Wein, von Fett und von Mark.

Aber auch die in der Wohlstandsgesellschaft grassierende Übersättigung löst das biblische Aroma von Tischgemeinschaften auf, wie die vielen Weihnachtsessen zeigen, dahin man sich mit vollem Bauch seufzend begibt.

Eine Stadt ohne öffentliche Stätten für Essen und Trinken, mit geschlossenen Kaffeehäusern und mit Versammlungsverboten auf öffentlichem Gelände ist keine Stadt mehr, vielmehr beginnt sie einem Lager zu gleichen, als ob sie einem Paradigma der Moderne folgen müsste, wie es der italienischen Philosoph Giorgio Agamben zu erkennen meint. Für ihn zeichnet sich weltweit eine zunehmende Ver-Lagerung von Leben ab, nicht mehr nur als Organisationsform für den Ausnahmezustand, denn immer mehr Lager existieren sehr lange und wachsen sich, wenn man nach Jordanien, Äthiopien oder Bangladesch schaut, auf Großstadtdimension aus. Sie transformieren Politik zu Biopolitik, einer von internationalen Hilfsorganisationen gestützten Organisationspraxis für das nackte Überleben. Mit der aktuellen Corona-Pandemie kommen auch innerhalb der Grenzen der rechtsstaatlich gefestigten westlichen Demokratien Ausnahmezustände zum Tragen und diese produzieren Umgangsformen der Verwaltung und Überwachung, die im Bestreben Gesundheit zu versichern, die freie Person und die freie Versammlung freier Personen als Zumutung, Ärgernis, ja als Gefahr einstufen.

Die weltweit im Zuge von Bürgerkriegen, Staatszerfallsprozessen und Vertreibungen extensivierte Lagerhaltung heimatlos gewordener Menschen – inzwischen die Hauptaufgabe der Vereinten Nationen – bringt das Lager immer stärker als ein neues Schema für die Ordnung des politischen Raumes ins Bild: Fürsorgliche Ver-Lagerung – gegebenenfalls mit Impfung – als Dienstleistungsangebot. Lager-haltige Ordnungsideen kommen natürlich nicht aus Traditionen von Geselligkeit oder aus Kulturen freier Versammlung, ebenso wenig, worauf Agamben hinzuweisen pflegt, aus dem bürgerlichen Recht, nicht einmal aus dem Strafvollzugsrecht. Sie kommen aus dem Krieg. Von daher kommt freilich so einiges, das unser ziviles Leben längst unterwandert hat: militärische Denk- und Handlungsmuster, wie das Denken und Zappeln in Projekten.      

Kann man dem Lager und dem darin entstehenden Koller entkommen und ein conviviales Abseits finden? Wohl nur, wenn man die Allmacht des Systems erkennt, ohne sie anzuerkennen. Das Abseits erreicht man durch Ausbüchsen und Verduften, beizeiten, also sobald die Düfte gedeckter Tische locken und die Freunde winken. Die Tischgemeinschaft im Abseits ist ein Ort für Dissidenten. Ihr Gehäuse des Seins ist eine anstößige Sprache, ohne die es keine Verständigung, sondern nur herbeimanipulierten „Konsens“ gibt, wie die deutsche Schriftstellerin Marianne Gronemeyer schreibt und weiter: die um den Tisch praktizierte Konvivialität ist gewaltlos, aber nicht zahm; sinnenfroh, aber nicht denkfeindlich; ohnmächtig, aber nicht kraftlos; geregelt, aber nicht bürokratisch; genügsam, aber nicht anspruchslos; gegenwärtig, aber nicht up to date; selbstbestimmt, aber nicht selbstgewiss; einfach, aber nicht simpel.

Weil es die Vereinten Nationen sind, die immer mehr und immer größere Lager zu versorgen haben, sei an einen ihrer bedeutendsten Vordenker erinnert: Immanuel Kant (1724-1804), Autor der Schriften „Zum ewigen Frieden“ und „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ war bekannt für seine Spaziergänge und für seine guten Mahlzeiten in guter Gesellschaft. Die täglich praktizierte Tischgemeinschaft erzeugte ihm den Genuss einer gesitteten Glückseligkeit, Ausgangs- und Endpunkt jedes humanen kosmopolitischen Programms.

 

Hans Göttel ist Studienleiter der Akademie Pannonien im Europahaus Burgenland in Eisenstadt.