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Kosmopolitismus und die Ursachen der Unterentwicklung

von Georg Cavallar ( Nachlese des Vortrages vom 15.3.2023 in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Burgenland)

© Fotos Wolfgang Böröcz

Welcher Kosmopolitismus? Versuch einer Systematisierung

Kosmopolitismus ist „die Theorie, dass alle Menschen unabhängig von Ethnie, Religion oder politischer Zugehörigkeit einer weltumspannenden Gemeinschaft angehören oder angehören sollen“ (Cavallar 2018: 137). Seit der frühen Neuzeit haben sich zahlreiche Formen von Kosmopolitismen herausgebildet. Die gleichsam „klassischen“ Kosmopolitismen (nicht nur, aber vor allem aus dem 18. Jdht.) argumentieren naturrechtlich oder moralphilosophisch: die Welt sei – in erster Linie – eine Gemeinschaft von Menschen, die bestimmte natürliche oder moralische Qualitäten besitzen und miteinander teilen. Der politische Kosmopolitismus stellt unterschiedliche Formen internationaler oder interstaatlicher Kooperationen in den Mittelpunkt, bis hin zur starken Konzeption einer Weltrepublik. Der ökonomische oder kommerzielle Kosmopolitismus erhofft sich Frieden und andere Vorteile (wie etwa die Bildung einer Weltgesellschaft) von wirtschaftlicher Kooperation und Interdependenz.

Zeitgenössische Kosmopolitismen seit den 1990er Jahren haben viele dieser Ansätze weitergeführt und weiterentwickelt. So finden wir eine Form des politischen Kosmopolitismus bei David Held oder eine Spielart des moralischen Kosmopolitismus bei Kwame Anthony Appiah. Eine neue Strömung kann als postmoderner Kosmopolitismus bezeichnet werden. Er wendet sich vor allem gegen Narrative oder Großerzählungen, hinterfragt etwa „white cosmopolitanism“ als elitär und ethnozentrisch. Als Beispiel kann vielleicht Catrin Lundström gelten.

Was sind die Ursachen der Unterentwicklung?

Jede kosmopolitische Theorie beschäftigt sich direkt oder indirekt mit dem Themenbereich Kolonialismus und Imperialismus und der Frage nach den Ursachen der Unterentwicklung von Staaten. Die zentralen oder wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche sozioökonomische Entwicklung sind die folgenden. Ich beginne mit der These des indischen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Kumar Sen, dass sich politische Freiheit, Handlungsfreiheit, ökonomische Freiheit, soziale Chancen und Entwicklung wechselseitig bedingen: „Expansion of freedom is viewed, in this approach, both as the primary end and as the principal means of development. Development consists of the removal of various types of unfreedoms that leave people with little choice and little opportunity of exercising their reasoned agency. The removal of substantial unfreedoms […] is constitutive of development“ (Sen 2000: xii). Der englische Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier nennt sie die vierte „Falle“ der Unterentwicklung, und sie ist wohl die bekannteste: „Bad governance“, also Staaten, die autoritär und korrupt sind und wo „checks and balances“ fehlen – oder „failed“ oder „failing states“ (vgl. Collier 2007: 64-75). Paul Colliers Beispiel ist die Langzeitdiktatur von Präsident Robert Mugabe von Zimbabwe (1924 – 2019) mit Misswirtschaft, massiven Menschenrechtsverletzungen und schließlich einem ökonomischen Kollaps und einer Inflationsrate von über 1000 % im Jahr (vgl. Collier 2007: 64).

Paul Collier betont noch drei weitere Faktoren. Zweitens die Bedeutung von stabilen staatlichen Strukturen, nämlich von Institutionen und Organisationen – ansonsten drohe die Gefahr von Kriegen oder Bürgerkriegen. Paul Collier nennt das den “conflict trap”: „It shows how certain economic conditions make a country prone to civil war, and how, once conflict has started, the cycle of violence becomes a trap from which it is difficult to escape“ (Collier 2007: x). Die dritte „Falle“ ist „the natural resource trap“ (Collier 2007: 38-52). Natürliche Bodenschätze sind nämlich langfristig – und interessanterweise – ein Fluch für das jeweilige Land. Diese Staaten werden meistens „Rentier states“, wo mehr als 40 % der Einnahmen eines Staates – die so genannten „rents“ – aus natürlichen Bodenschätzen wie Öl oder Gas stammen.

Die Folgen sind fatal und führen meistens zu einem autoritären Staat mit wenig Zivilgesellschaft, wenig politischer Freiheit, mit keiner oder einer schwachen Mittelschicht, aber viel Abhängigkeit der Bevölkerung von der Regierung. Das trifft etwa auf alle erdölexportierenden „Muslim-majority countries“ zu (vgl. Kuru 2019: 48-52). Paul Collier schreibt: „rents seem to be damaging. Over time, countries with large resource discoveries can end up poorer, with the lost growth more than offsetting the one-off gain in income provided by the rents“ (Collier 2007: 38). Die vierte „Falle“ sind „landlocked countries“; damit sind Staaten gemeint, die benachteiligt sind, weil sie geographisch ungünstig liegen und von armen Staaten mit schwacher Infrastruktur umringt sind – im Gegensatz etwa zur heutigen Schweiz (vgl. Collier 2007: 53-63). Bei diesen Staaten ist internationale Hilfe naheliegend und ganz wichtig.

Im Kampf von politisch Links gegen politisch Rechts haben sich – vereinfachend zusammengefasst – zwei Narrative etabliert (vgl. Collier 2008: 100). Dem linken Narrativ zufolge ist Entwicklungszusammenarbeit eine Art Reparation für das Unrecht von Kolonialismus, Imperialismus und Ausbeutung. Bei der Entwicklungszusammenarbeit gehe es im Grunde genommen um die moralische Schuld der Industriestaaten bzw. der westlichen Staaten, während die Empfängerländer die Rolle der Opfer spielen: „they all suffer from our sins“ (Collier 2008: 100; für typische linke Positionen siehe Ziegler 2018 und Slobodian 2019).

Dieses Narrativ ist auch bei Frantz Fanon zu finden. Tatsächlich geht es jedoch auf die christliche Soziallehre und Moraltheologie zurück – wie so vieles an der europäischen Moderne (siehe Holland 2021). Das rechte Narrativ behauptet, dass die Empfängerstaaten selbst schuld sind, die moralischen Schuldgefühle der Industriestaaten ausnützen und letztlich Sozialschmarotzer „on a grand scale“ seien. Beide Narrative sind einseitig und unbefriedigend. Zwischen diesen Extremen sollten wir uns ansiedeln: mit dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“. Das Narrativ könnte dann so lauten: „We used to be that poor once. It took us two hundred years to get to where we are. Let’s try to speed things up for these countries“ (Collier 2008: 100). Was heute als ganz wichtige Zusatzüberlegung dazukommt: die Rücksicht auf unsere Umwelt und unseren Planeten.

Von postmodernen Ansätzen kann gelernt werden, auf „Großerzählungen“ oder eben liebgewonnene Narrative zu verzichten. Stattdessen sollten wir genau hinsehen, wie das etwa Paul Collier oder Atul Kohli tun. Empirische Daten und Statistiken sollten ernst genommen werden – aber mit dem Wissen, dass sie interpretiert werden müssen und vielleicht mehr als eine zulässige oder vernünftige Interpretation erlauben. Weiters wird bei allen Beteiligten neben Vernunft auch Klugheit und Urteilsvermögen benötigt: für eine sinnvolle Entwicklungszusammenarbeit, die kein Geld verschleudert und nicht neue Abhängigkeiten schafft. Die kluge Einsicht, dass die „unterste Milliarde“ an verarmten Menschen eine tickende Zeitbombe darstellt und diesen dringend und rasch geholfen werden sollte. Die kluge Einsicht in starke Institutionen und Organisationen, aber auch die vernünftige Einsicht, dass vor allem gerechte Institutionen – nämlich demokratische Rechtsstaaten – nötig sind. „Change in the societies at the very bottom must come predominantly from within; we cannot impose it on them. In all these societies there are struggles between brave people wanting change and entrenched interests opposing it” (Collier 2007: x). Diese erste Gruppe von Personen sollte von anderen Staaten unterstützt werden. Wie das genau aussehen sollte, müsste wohl noch intensiv diskutiert werden. Eine Reihe von Vorschlägen gibt es jedenfalls bei Autorinnen und Autoren wie Paul Collier (Collier 2007: 99-173). Schließlich brauchen wir eine schwache Konzeption von Gerechtigkeit, der unter verschiedenen Kulturen konsens- und anschlussfähig ist.

GEORG CAVALLAR ist Lehrer am Wasagymnasium, Dozent für Neuere Geschichte, Buchautor und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Rechtsphilosophie Kants, die Geschichte des Völkerrechts und des Kosmopolitismus sowie die europäische Aufklärung. Zu seinen aktuellen Publikationen gehören Schulbücher für die Fächer Psychologie, Philosophie und Geschichte.

Literatur

         Afsah, Ebrahim, Buchbesprechung von „Where is the Wealth of Nations?“, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 68 (2008), 286-91.

Cavallar, Georg, The Rights of Strangers: Theories of international hospitality, the global community, and political justice since Vitoria, Aldershot: Ashgate, 2002 and New York: Routledge, 2016.

Cavallar, Georg, Gescheiterte Aufklärung? Ein philosophischer Essay, Stuttgart: Kohlhammer, 2018.

Cavallar, Georg, Kant and the Theory and Practice of International Right, Second, revised edition, Cardiff: University of Wales Press, 2020.

        Collier, Paul, The Bottom Billion: Why the Poorest Countries are Failing and What Can Be Done About It, New York, Oxford: Oxford University Press 2007.

Holland, Tom, Herrschaft. Die Entstehung des Westens, Stuttgart: Klett-Cotta-Verlag 2021.

Kuru, Ahmet T., Islam, Authoritarianism, and Underdevelopment: A Global and Historical Comparison, Cambridge: Cambridge University Press 2019.

Sen, Amartya Kumar, Development as Freedom, New York: Alfred A. Knopf 2000.

        Slobodian, Quinn, Globalisten: das Ende der Imperien und die Geburt des Neoloberalismus, Berlin: Suhrkamp 2019.

Ziegler, Jean, Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin, München: Bertelsmann 2018.