
Protokoll zu einem „Soundcheck“ im Rückblick auf eine Projektreihe des Europahauses 2001-2004.
von Hans Göttel
Wir fragen nach der Demokratie, nach ihrer Eignung als Instrument zum Anspielen – oder Ausspielen – Europas, und wie es gegebenenfalls einzurichten, also zu stimmen wäre, damit Resonanz entsteht und aus dem Mitschwingen Raisonement wird – eine Denkweise, eine Seinsweise, eine Weise, Europa zu vernehmen, wahr zu nehmen.
Durch Resonanz zu Raisonement; im Mitschwingen zum Mitdenken – in Europa und für Europa! Mit einer dafür eingestimmten – oder, wollen wir es mit Friedrich Schiller wagen – einer hinaufgestimmten Demokratie? In seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen meint er: „die Gesellschaft ist in ihrer Idealform eine, in der sich die Teile zur Idee des Ganzen hinaufgestimmt haben.“
Und weil er die Notwendigkeit einer guten Verfasstheit in einer guten Verfassung sah, meint er:
Vielleicht wird man
„Bürger für die [europäische] Verfassung schaffen müssen,
ehe man Bürgern eine [europäische] Verfassung geben kann.“
Das von Idealismus getragene politische Bildungsdenken Friedrich Schillers (1759-1805) war ein Ankerpunkt für eine Europäische Projektserie, begonnen vor 25 Jahren, koordiniert durch das Europahaus:
Die Frage nach dem Vermögen von Bildung, von freier Bildung und ihr Resonanzpotential für das Anstimmen des europäischen Einigungsprozesses.
Dass die Demokratie als solche das richtige Instrument für eine konzertante Aufführung Europas ist, war damals unstrittig und wir möchten ja, dass es immerfort so bleibt, freilich, einen festen Boden hat dieser Standpunkt eigentlich nicht. Und die Gegner zeigen sich immer mehr.
Das Instrument „Demokratie“ ist nicht für transnationale Ambitionen gebaut worden. Schon den Geburtsort der Demokratie, die griechische Polis, umgab eine Mauer. Es ging und es geht um Verfahren der Abgrenzung, Sicherung, Ein- und Ausschließung, wie es heute souveräne Nationalstaaten praktizieren müssen, weil sie sonst gar keine wären.
Was Europäer mitbringen, ist eine nationale Gestimmtheit. Die wird gerade auch zu den Europawahlen verfestigt, indem diese wie selbstverständlich als nationale Wahlen durchgeführt werden. Das wollen die Staats- und Regierungschefs auch so. Initiativen, die seit Jahrzehnten eine Europäisierung des Wahlakts fordern, können offenbar nicht genug Resonanz erzeugen.
An der Wahlurne zu den Europawahlen ist das Europa der Vaterländer Realität.
Johann Nestroy (1801-1862) hat in seiner sarkastischen Art auf die Bedeutung einer zuverlässigen Gestimmtheit angespielt: „Ich verkünde in Krähwinkel Rede-, Press-, und sonstige Freiheit, ja sogar freie Wahlen – nach vorhergegangener Stimmung.“ (sobald das Stimmvieh zuverlässig zugerichtet ist. Erg. Verf.)
Seit die modernen nationalen Demokratien aufspielen, zerfällt Europa; aus wenigen feudalen Reichen, familiär-aristokratisch verflochten, wurden schon 47 wie man sagt: souveräne Staaten; und wenn sich das demokratische staccato in Flandern, in Katalonien oder in Schottland verstärkt und Resonanz findet, werden es noch mehr werden.
Auf globaler Ebene ist es nicht anders: 1945 gab es 74 Staaten, dann kamen Entkolonialisierung und Demokratisierung; nun haben wir 193. Davon gar nicht so wenige, die wieder zerfallen: Somalia, Sudan, Jemen, Tschad, Kongo, … doch bevor wir dieses Phänomen dem Globalen Süden zuschieben, denken wir noch einmal an Jugoslawien.
Lasset uns nachdenken! – warum wir staatlich sehen und denken? Und ob das heute der Demokratie genügt?
Was Europäer kaum noch bedenken, ist ihr vor-nationales, vormodernes Erbe, symbolisiert durch drei Hügel: Golgotha in Jerusalem, Akropolis in Athen, Kapitol in Rom – Symbolorte für Humanität, Freiheit und Recht, die doch Substanz für ein Gemeinsames darstellen, für eine philosophisch-ethische Atmosphäre.
Oder? – haben sich unser Kontinent / seine Nationen so vergangen und dabei so besudelt, dass eine solche Rückbesinnung nur mehr beschämend ist?
Als Thomas Mann (1875-1955) in seinen Reden an deutsche Hörer während des zweiten Weltkriegs an Europa gemahnte …,
„das uns lieb und teuer war,
etwas unserem Denken und Fühlen Natürliches –
das Gegenteil zu
provinzieller Enge,
borniertem Egoismus und nationalistischer Rohheit usw.“ …
… da ging es vor allem um Stimmungsmache, denn so natürlich, wie Thomas Mann damals kundtat, ist das eben nicht. Aber darum geht es – auch für uns – zunächst: Um Stimmungsmache für Europa, ohne sich mit Propaganda zu begnügen.
Die Einrichtung von Demokratie, ihre Stimmung für Europa wird sich darum bemühen, aus der Kakofonie nationaler Klänge zu einer Symphonie zu finden, ja, diese in einem übernationalen sound erklingen zu lassen. Aus Volksmusik mag Folk-music und so zu World-music werden. Jazz kann uns aus beklemmenden Bedingungen hinaus- oder im Sinne Friedrich Schillers hinauf- oder einfach nur durcheinander- oder zueinanderbringen.
Wenn wir Fußball – Champions League schauen, dann blicken wir in ein ephemeres europäisches Ereignis mit viel Resonanz, keinen Sprachproblemen und durchaus progressiver Symbolik, mit Lob der Vielfalt und Toleranz.
Eine großartig konzipierte Ausstellung „Atmosphäre der Demokratie“ [2001 ZKM, Karlsruhe], an der die bekannten Philosophen und Künstler: Peter Sloterdijk, Bruno Latour und Peter Weibel mitgewirkt haben, gab uns damals theoretisch-künstlerisches know-how für eigene Erkundungen und Praktiken.
Wie etwa nach den Versammlungskulturen in Europa: Wo versammeln sich Europäer, an welchen Orten, in welchen Formen? Wie ist ihre Gesprächskultur, geprägt von Überredung oder Unterredung? Gibt es noch offene Gespräche, oder nur mehr moderierte und therapierte Konsens-Fabrikation? Welche Rolle spielen Gedächtnisorte: Bibliotheken, Archive, Museen – als Orte der Begegnung, der Integration und des Dialogs?
Versammlungsorte und -formen, in Schweden, in Finnland, Italien und im Burgenland sind ganz unterschiedliche Milieus, die das demokratische Leben mehr oder weniger stimmig gestalten. Trifft man sich im Wirtshaus ist man anders gestimmt, als in einer Bibliothek oder auf einer Piazza oder in einem Archiv. [Das damals im Burgenland studierte Wirtshaus war der Kirchenwirt in Sziget in der Warth].
Das Wirtshaus ist eine der ältesten Orte der Öffentlichkeit. Lange Zeit war es Sitz der Schule. Der Wirt war einer der wenigen Lesekundigen, er las den Gästen aus der Zeitung vor. Wann und wieso, so fragte Leopold Khor (1909-1994), wurde das Wirtshaus erniedrigt zu einer Ausgabestelle flüssiger Beruhigungsmittel? Und das Symposion, das Trinkgelage? Im Regime der Erwachsenenbildung ausgetrocknet, wie die Parndorfer Platte.
Schließlich wurde damals ein Netzwerk von Studienzirkeln realisiert, die von Finnland bis Malta eingerichtet wurden, kleine Forschungs- und Lerngruppen, zusammengesetzt aus Vertretern von Bürgerinitiativen, Erwachsenenbildnern und Künstlern, um zu sehen, wie diese Akteure in den Ländern Europas arbeiten und wie sie das transnational tun könnten. Dieses Projekt „Ein Vermögen für Europa“ hat in einem ranking der EAEA den zweiten Platz erreicht.
Ein dritter Ankerpunkt damals war der Europäische Verfassungskonvent, der durch den Gipfel von Laken im Dezember 2001 eingesetzt wurde. Sein Vorsitzender, Valérie Giscard d´Estaing (1926-2020), ehemaliger französischer Staatspräsident, verwies sogleich auf den Stimmungsbedarf, weil eine Verfassung, anders als ein Staatsvertrag, eine gemeinsame Sache zwischen Völkern und Menschen ist. Das muss anklingen und ankommen!
Nun, es ist anders gekommen, es ist nicht wirklich angekommen, Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden haben den Entwurf abgelehnt; einen Entwurf, der eh kein großer war. Danach wurde er archiviert.
Das dem Verfassungsentwurf vorangestellte Motto lautete: Die Europäische Union als Hüterin der Demokratie. Doch wiewohl die EU die Demokratien ihrer Mitgliedsstaaten behütet, bleibt sie selbst weit hinter dem zurück.
Von einem Art 46/6 im Verfassungsentwurf, der eine Bürgerinitiative auf Unionsebene vorsah, heißt es, dieser soll nachträglich auf Intervention „demokratiebesessener“ Externer in den Entwurf gerutscht sein. An dieser Rutsche hat das Europahaus mitgewirkt.
Im Umfeld des Europäischen Konvents und im Verband mit manch demokratiebesessenen Initiativen entstanden im Rahmen der damaligen EU-Projekte des Europahauses fachliche und künstlerische Erörterungen in guter Vernetzung mit Mitgliedern des Konvents.
Dazu gehörten Studienreisen und internationalen Konferenzen sowie die Erstellung von Dokumentationen, Dokumentensammlungen und ein Prozessbericht, der auch die Entstehung der Rechtsgrundlage für die genannte Europäische Bürgerrechtsinitiative schildert: Darin kann man z.B. das hier finden: Den Hinweis auf eine österreichisch-italienische Initiative für direkte Demokratie auf europäischer Ebene, die der Neuen Zürcher Zeitung eine ausführliche Mitteilung wert war. In österreichischen Medien hat man keine Notiz davon genommen.
[Akteure: Außenminister Wolfgang Schüssel bzw. Lamberto Dini Im Vorfeld der EU-Regierungskonferenz in Amsterdam]
Dass die Einrichtung / Stimmung in politischen Prozessen eine heikle Sache zu sein scheint, vermittelt eine Bemerkung des luxemburgischen Premiers Jean-Claude Juncker: „Der Konvent ist angekündigt worden als die große Demokratie-Show. Ich habe noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent.“
Für unsere finnischen Kollegen war da nichts Besonderes: In ihrem Land ist das, was wirklich bedeutsam ist, immer schon in der Sauna abgemacht worden.
Solange Demokratie und Europa nicht von der KI generiert werden, solange es Menschen in ihre Mitte nehmen, es besprechen, entscheiden und formen, brauchen sie ihre Räume und ihre guten, tragfähigen Stimmungen. Ein musikalisches Anstimmen hat den Vorzug, dass es keine unmittelbare Versprachlichung anwendet. Und sie kann Resonanz erzeugen, die keine Sprache hinreichend erfasst.
Ist etwas komponierbar, muss es noch nicht sagbar sein; ist es dichterisch sagbar, muss es noch nicht politisch sagbar sein. Ein musikalisches Anstimmen aber kann den Grundton erzeugen, um etwas sagbar zu machen. Etwas, das ins Sagbare drängt, braucht die Stimmung, die es nach vorne trägt.
Unser sound-check von damals hat gezeigt, es gibt in allen Ländern Europas vorwiegend nationale Inszenierungen und Traditionen, doch auch vernehmbare kosmopolitische Gestimmtheit. Was es damals auch gab: eine politische Sprechweise, die schon weiter war. Die europäische Verfassungsfrage war ein Thema und die direkte Demokratie auf Unionsebene zumindest ein Versuchsballon.
Es möge wieder anklingen: Das Denken für Europa!
Dank dieser Tagung! Der Text ist eine gekürzte Fassung des Vortrags vom 2. Juni 2025 im Burgenländischen Landtag.
Er erschien im Magazin „WELT(GE)WISSEN“ vom November 2025.