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Grenzschutz für Weltbürgerschaft

Eine Erinnerung an die edle Funktion von Nation

von Hans Göttel

Dicht an dicht liegen heute die Nationalstaaten und schützen ihre Grenzen. Schon in der Antike und seither immer wieder haben sich Menschen wegen der im politischen Spiel vorherrschenden Abgrenzungsmentalität diesem entzogen und eine Befindlichkeit als kosmopolites, als Bürger des Kosmos, angestrebt. Erasmus von Rotterdam, heute immerhin Namensgeber des europäischen Bildungsprogramms, nannte vor ca. 500 Jahren sein Ideal: die Nichtbürgerschaft bei allen.

Das slawische Wort granica bezeichnete keine Linie, sondern ein weitläufiges Gelände, ein Streifgebiet, vielleicht vergleichbar mit der amerikanischen Frontier. Es war kein Geringerer als Martin Luther, der den Begriff Grenze in seinen Reden und Schriften oft verwendete und somit im deutschen Sprachraum verbreitete. Er hatte eine Vorliebe für das Wort, weil es für ihn die Idee des Weiter-Werdens trug. Im Wort Grenze war die Idee der Weltoffenheit enthalten. Grenze meinte einen Raum und eine Anberaumung von Freiheit und Weite.

Das grenzw(a)ertige Leben – sei es im Wilden Westen, im wilden Osten oder bei den Wilden im Süden – schuf Subjekte der Geschichte, die sich und ihre Ideen im ständigen Vordringen universell anberaumten. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts waren sie dafür mit einem Prospekt ausgestattet, der so schöne Dinge, wie persönliche Freiheit, Menschenrechte und Volksherrschaft ankündigte, während überwältigende Wirtschafts- und Waffensysteme deren universelle Verwirklichung in Angriff nahmen und dabei die schönen Dinge pervertierten. Fragt man die Entwicklungspolitik nach ihrem Beitrag, wird man hören, man habe den Menschen in der Dritten Welt nur Hilfe zur Selbsthilfe gebracht; fragt man die Bildung nach ihrem Beitrag, wird man hören, man habe den Leuten hier wie dort doch nur Lesen und Schreiben beigebracht, damit sie im Leben besser vorankommen.

Nun kommen sie, die Entwickelten und Gebildeten, tatsächlich voran und heran, bestens im Bilde über Ursprung und Ziel ihrer Entwicklung. Statt einer geschützten Frontier als Begegnungsfeld liegen aber Zäune, Mauern und Stacheldraht vor ihnen; wer sie überwindet, findet sich immer öfter in einem Lager und lebt fortan im Modus der Lagerhaltung, mehr oder weniger betreut durch die Vereinten Nationen oder die Europäische Union, die versorgen, was die Nationen besorgen: Entwurzelte, Vertriebene, Gestrandete, Verelendete. 

Vor über 200 Jahren brauchte es für französische Revolutionäre wie deutsche Romantiker die Nation, um den in der Französischen Revolution als universell gültig proklamierten Rechtsgütern: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie und Menschenrechte einen geeigneten Verwirklichungsrahmen zu geben; denn selbst universell gültige Phänomene brauchen einen Verständigungsraum, eine Sprachgemeinschaft als Gehäuse des Seins, um in die Welt kommen zu können. Die edle Funktion von begrenzten Nationen liegt darin, Heimstatt und Wegbereiter für unbegrenzte Entfaltung von Ideen zu sein, ja Ausgangspunkt für kosmopolitische Passagen. Die Qualität einer Politik der Imagi-Nation zeigt sich darin, wie gut es der Weltbürgerschaft darin geht. Zur Erinnerung: In den Nazi-Konzentrationslagern wurden Todesurteile mit der Zuschreibung „Kosmopolit“ begründet.

Ein Recht auf den Schutz der Grenzen bezieht eine Nation gerade aus ihrem Beitrag für Weltoffenheit und unbegrenzten Frieden. Erst wenn Bürger sagen: Ich bin stolzer Patriot, weil mich mein Land vor nationalistischer Rohheit schützt und mir ein Leben als Weltbürger ermöglicht, spricht nichts gegen Heimatschutz.

Es gibt die Meinung, dass nur eine Überwindung oder gar Abschaffung der Nationen Europa voranbringen würde. Dabei wird übersehen, was der deutsche Historiker Hermann Heimpel (1901-1988) klar benannte: „Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa.“ So gesehen, wäre Nationspflege ein guter Beitrag zur Europabildung, solange in den Grenzen der Nation und durch diese geschützt, das gedeiht, was zur Welt kommt und der Welt bekommt. Ob in einem Schloss oder in einem Stall, egal, wo sie geboren werden, Menschen kommen auf die Welt! Sie kommen weder auf einen Ort, noch auf einen Staat, noch auf einen Markt und auch nicht auf eine digitale Plattform. Sie sind keine verwaltbare Lagerware, auch keine optimierbare und bewirtschaftbare Ressource.

„Wie diene ich der Welt, durch die Arbeit an der Nation?“, fragte der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905-1961) kalifornische Studenten bald nach dem zweiten Weltkrieg, um damit aufzuzeigen, dass die Phänomene Weltoffenheit und nationale Begrenzung in keinen Gegensatz manövriert gehören, eher einander stützen sollen. Poetisch auf den Punkt gebracht hat es der deutsche Romantiker Novalis (1772-1801) lange vor ihm, indem er Deutschheit als die Kombination von starkem Ich und weltbürgerlicher Gesinnung beschrieb.

Nationen, die durch ihre politische Klasse ohne kosmopolitische Ausgestaltung völkisch inszeniert werden, vergehen sich gegen ihre ursprüngliche Legitimation, nämlich jener in Grenzen geborgene weltoffene Verständigungsraum zu sein, der notwendig ist, damit überall die Menschen der Welt in Freiheit und Würde leben können. Ohne diese kosmopolitische Bindung ist die politisierte Nation (frei nach Grillparzer) nur ein Durchgang zur Bestialität, populistische Politik das Scharfmachen des Volkes.

Kurzum, auch mit Grenz- und Heimatschutz lässt sich durchaus bella figura machen, doch nur solange Grenzschutz Schutz für Erkundung, Begegnung und Entwicklung meint und Heimat unter diesem Schutz zur Heimstatt von Weltbürgerschaft wird.

Hans Göttel ist Studienleiter der Akademie Pannonien.